Montag, 19. September 2011

Hände hoch! Gesellschafts-Überfall!

Premiere zum Nachdenken
Ba-Ba-Banküberfall. "Tannhäuser" in Bremen.
Es ist seit geraumer Zeit unmodern, auf der Bühne an das Pathos zu glauben, an Mythen, die größer sind als wir Menschen, die nicht von unserem Leben, sondern von unserem Sein, von uns als Kreaturen erzählen – die uns als Knochen und Geist interpretieren. Irgendwann hat das so genannte „Regietheater“ das Feld erobert und damit begonnen, das Überzeitliche, das Übermenschliche und das Große klein zu machen, herunter zu brechen und die Oper in unser konkretes Leben zu übersetzen.
Ein Werk wie Richard Wagners „Tannhäuser“ bietet sich dafür besonders an. Zwei Welten stehen einander gegenüber: die erotische Lustwelt der Venus und die moralisch ambitionierte Welt der Wartburg. Wagners lebenslange Dialektik von Dionysos und Apollon, von Körper und Geist, von Bauch und Kopf. Der arme Tannhäuser lebt in beiden Reichen und wird von beiden erfüllt – und von beiden enttäuscht. Er ist: ein Mensch wie wir alle!
Auf den Opernbühnen bietet sich dieser Clash of Cultures für jede reale Brechung des Mythos’ an: Wir haben Venus als virtuelle Internet-Göttin und die Wartburg als Spießerwelt, die Liebesgöttin als Puffmutter und die Wartburg-Mannen als Nadelstreifenträger gesehen – und kürzlich wurde Venus’ Reich in Bayreuth als archaisch körperliche Kultwelt, die sich der Liebe hingibt und Exkremente absondert, der hehren Ritter-Welt gegenübergestellt, die als Betreiber einer Biogasanlage fungierte, in der die Exkremente der Lustwelt veredelt werden, um den Nahrungskreislauf (per Gasherd) von Neuem anzutreiben. Alle diese Deutungen haben mit der Dialektik von real existierenden Gegenwelten geflirtet. Ihr Problem war stets das Gleiche: Der ursprüngliche Mythos ging verloren. Die Personen wurden nicht nur von ihrer inneren Zerrissenheit gelenkt, sondern von den Zeitläuften der Welt. Sie waren keine Archetypen, sondern von ihrer Umwelt definierte Klischees. Dabei ist Richard Wagner bewusst in das Mittelalter geflohen, um eine Geschichte jenseits der Tagespolitik zu erzählen – er wollte eine Parabel komponieren, die größer ist als unsere aktuellen Probleme.
Für Bremen hat Regisseur Tobias Kratzer ebenfalls zwei bestehende Welten auf die Bühne geholt: Seine Venus ist eine terroristische Bankräuberin, seine Wartburg ein Theaterbetrieb, der sich von einer großen deutschen Bank finanziell unterstützen lässt. Und mehr noch, der Venus-Terrorismus orientiert sich an den Klischees der RAF, die Gewalt wird als Fortsetzung der Lust-Kommune verstanden, eine Art Bonney und Clyde mit linksradikaler Moral. 
Aus dem WG-Zimmer werden Banken in „Joker“-Clown-Masken geentert, und der Show Down findet – ähnlich wie in Bad Kleinen – auf dem Bahnhof statt. Die Bank, die als Sponsor eines Gesangswettbewerbs auftritt („Wir investieren in Menschen“) ist natürlich auch eine selbstironische Abrechnung mit den letzten Jahren des Bremer Theaters, in denen Ex-Intendant Hans-Joachim Frey die Geldgeber und der Hochglanz wichtiger waren als der musikalische und szenische Inhalt. 
Man muss Regisseur Kratzer lassen: Diese Gesellschaftskonstellation hat Sprengstoff, ist aktuell – und führt von Bremen in die aktuelle Welt. Allein damit kommt er allem nach, was man von einem Stadttheater erwarten kann.Aber er legt sehr viele Fäden aus, erzählt auf unterschiedlichen Ebenen und verliert – trotz wirklich toller Personen-Regie – zuweilen die Fäden aus der Hand und klittert selbst die realpolitischen Mythen. Kratzer muss sich einige Fragen gefallen lassen.
Ist das Reich der Venus, der Lust und der Verführung tatsächlich politisch belastet? Stimmt es, dass die Lust die eigentliche Triebkraft der RAF-Gewalt war? Ist es wirklich so, dass die Wartburg-Welt sich ihre Moral von einer Bank vorschreiben lässt? Und stehen sich bei Wagner sexy Bankräuber mit Pseudo-Gesellschaftsauftrag und eine Spießer-Gesellschaft gegenüber? Oder ist all das nicht viel zu einfach gedacht? Ist das nicht mehr Feuilleton als Oper?
Fragen, die durch den genialen Schluss-Effekt erst einmal belanglos werden. Beim Showdown auf dem Bahnhof (Bühnenbild: Rainer Sellmeier) vermischen sich bei Kratzer beide Welten: Tannhäusers Wartburg-Geliebte, Elisabeth, wechselt die Seiten und wird zur Terroristin – sie macht gemeinsame Sache mit Venus. Am Ende werden beide von der GSG-9 erschossen. Und die Erlösung, die der Papst Tannhäuser verweigert, wird nicht - wie bei Wagner - durch einen Kinderchor Ex-Machina aufgelöst, sondern durch eine Meute von Clowns, die das Sondereinsatzkommando entwaffnet und die Macht im Staat übernimmt. Diese Eingemeindung der Moral und Wagners durch den „normalen Menschen“ schließt den Bogen zur Putzfrau, die schon zur Ouvertüre die Bank-Filiale gereinigt hat und unbefangen zu Wagner-Rhytmen tanzte, bevor der Filialleiter sie stoppte und Tannhäuser sie aus Versehen erschoss. 
Statt Gott, der das Papst-Diktat aus dem Himmel überstimmt, richtet bei Kratzer die terroristische Spaßgesellschaft unser Dasein – die Anzahl der Toten, der Trauer und die Größe der Tragödie verändert sich dadurch nicht.
Und noch einen bestechenden Gedanken birgt Kratzers Lesart auf die Bühne: Während es normalerweise schwer fällt, Tannhäusers Bußgang zu verstehen, nur weil er sich im Reich der Venus aufhielt, macht er die Situation des Protagonisten zwingend. Weil der Titelheld bei seinem Banküberfall unfreiwillig die Putzfrau erschießt, plagen den Lustmenschen nun plötzliche Gewissensbisse – die Revolution fordert Opfer. Und das wollte der Revolutionär des leichten Lebens nicht. Nun will er aussteigen. Venus und die RAF verlassen. Er bereut wahrhaftig. 
Selten wird das private Martyrium des Titelhelden so zwingend verdeutlicht wie hier.Und dennoch. Was für Fragen stellt Wagner eigentlich, wenn man sich auf seine Mythenwelten einlässt und nicht sofort versucht, sie auf unsere Alltagswelt zu schrumpfen? Muss man seine Werke nicht vom Ende her denken, statt vom Anfang? Muss man in ihnen nicht das Große, den Mythos suchen statt der Realität? Geht es wirklich um die zwei Welten, oder geht es nicht eher um ihren Kampf, der nicht in unserer Gesellschaft, sondern in jedem von uns tobt? Ist „Tannhäuser“ ein Gesellschaftsstück, oder ein Menschenstück? Ein Werk, das über uns alle oder über uns persönlich erzählt? Eine politische oder eine private Oper? 
Und ist es bei Wagner nicht immer so wie bei Shakespeare: Erlösung gibt es nur im Tod, aber am Ende bleibt stets ein Mensch – so wie Hamlets Horatio - übrig, der unserer Nachwelt von der Tragödie berichtet. „Tristan“, „Lohengrin“, „Parsifal“, „Holländer“ – all diese Opern erzählen, ähnlich wie „Romeo und Julia“, von verfeindeten Welten. Und davon, was wir aus ihrem tragischen Kampf lernen können. In „Tannhäuser“ ist Wolfram der Überlebende. Er ist in Elisabeth verliebt, hat Mitgefühl für Tannhäuser und ist von Venus angezogen. Er ist der eigentliche Vermittler der Gegenwelten – und Tannhäusers legitimer Erbe.
Doch gerade aus dieser Figur macht Kratzer eigentlich nichts. Er lässt sie mitlaufen und am Ende an der Seite der toten Elisabeth knien. So führt der Regisseur seinen unbedingten Realismus immer wieder in erzählerische Schieflagen: Wird die Welt am Ende tatsächlich von vielen kleinen, lustigen Terroristen befreit? Kann Venus eine Bankräuberin sein? Darf Wolfram an der Seite Elisabeths leiden? Und ist es möglich, dass Elisabeth tatsächlich die Seiten wechselt, satt sich nur zu ihrer Liebe zu bekennen und dadurch eine erlösende Gegenwelt zu etablieren?
In „Tannhäuser gibt es keine irdische Instanz. Venus versucht ihr Reich aufrecht zu erhalten, ebenso wie ihr Gegenspieler, der Papst in Rom. Er kann und will Tannhäuser nicht vergeben (für einen Mord wäre das möglich, für die Hingabe zu Venus Reich nicht!). Erst, wenn sein Stab ergrünt, wird der Sünder bei entsündigt – die Erlösung hat also nichts mit Gesellschaftsmodellen, sondern mit Gott persönlich zu tun. Wagner erzählt hier eine Geschichte, die jenseits der Welt von Venus und Wartburg stattfindet. Er feiert in seiner Oper die Vision des Menschen, in der Lust und Moral sich vereinen. Erlösung kommt nicht durch menschliche Gesellschaftsentwürfe zu Stande, sondern wird von Gott persönlich legitimiert, oder (wahlweise) durch den humanistisch denkenden Menschen. Erlösung ist bei Wagner: Die Vereinigung der Venus-Welt und der Wartburg-Welt durch ein übergeordnetes Prinzip, oder durch den Menschen als humanistisch-mimetisches Wesen. 
Elisabeth hat diese Gabe bereits im zweiten Akt. Sie erklärt, dass Tannhäuser nicht von den Rittern bestraft werden kann, dass Jesus auch für seine Sünden gebüßt habe – sie appelliert an die Urlehre des Glaubens, die den Teufel im Menschen mitdenkt. Bei Kratzer tut sie das mit dem Gewehr in der Hand und macht sdich dadurch in ihrer Moral angreifbar. Schließlich entscheidet sie sich für Venus’ Welt – auch das ist nicht vorgesehen. Elisabeth begreift in Wirklichkeit als Erste, dass es nicht darum geht, Partei zu ergreifen, sondern den Menschen in all seiner Zerrissenheit zu lieben: als Menschen. 
Jenseits der Liebesgöttin Venus und jenseits der moralischen Instanz des Papstes. Sie zur Terroristin zu machen, verrät unseren Glauben an den Mythos, an Gott und an Wagner.Und dennoch: Im Gegensatz zu vielen realsitstisch-weltlichen „Übersetzungen“ öffnet Kratzer spannende Perspektiven. Er befragt die Gewalt, die moralische Gesellschaft – und nicht zuletzt (wenn auch ein wenig platt) das Sponsoring des Theaters.
Markus Poschner und die Bremer Philharmoniker begleiten dieses Panoptikum fast schon brav. Poschner geht es ohrenscheinlich um Entschleunigung. Er nimmt sich Zeit, manchmal so viel, dass die Sänger und der Frauenchor mit ihrem Atem nicht nachkommen. Aber er will das Aufgeblasene unter allen Umständen vermeiden, musiziert bewusst analytisch – und beraubt sich selbst dadurch mancher pathetischer Effekte, die Wagner durchaus vorsieht. Zu Gute kommt sein besonnenes Dirigat den intimen Momenten, etwa den Liedern der Wartburg-Sänger und ihren sinnlichen Exkursen und Versuchen über das Wesen der Liebe.Bemerkenswert ist das Sängerensemble des Bremer Theaters. Allen voran Patricia Andress als Elisabeth. Einen derart auf Legatolinien konzentrierten Sopran, bei dem der Text zur Musik wird, hört man selten – ihre Elisabeth legt sie an wie ein großes Strauss-Lied: mit endlosem Atem und Abgründigkeit in der Phrasierung. Der Tannhäuser ist einer Möder-Tenor-Partie, und Heiko Börner ist sich dessen bewusst. Er schont sich im ersten und zweiten Akt, um am Ende eine ungemein intime und aus dem Herzen erzählte Romerzählung hinzulegen, in der alle menschliche Verzweiflung offenbar wird. 
Martin Kronthaler gib einen besonnenen, zuweilen etwas blassen, nie aber überforderten Wolfram. Und Alexandra Scherrmann ist eine spitze, mit ihren Vokalen und körperlichen Reizen spielende Venus, die der Regie folgt und eher als Terroristin d’amour denn als Liebesgöttin auftritt. 
Vor der Aufführung und in den Pausen lassen sich die Ehrengäste der Bremer Landesbank im abgesperrten Foyer-Teil des Bremer Theaters ihre Champagner-Stimmung nicht verderben. Sie sind gekommen, um sich zu unterhalten. Und nach guter alter Wartburg-Manie sind sie bereit, selbst die Provokation weg zu lächeln.
Dem Bremer Theater ist mit dieser Premiere ein Opernabend gelungen, der es versteht, die Rolle des Regionaltheaters zu behaupten: Eine selbstironische, erbarmungslose, revolutionäre Befragung des Opern-Mythos’ durch unsere Wirklichkeit. Wenn ein Opernabend das schafft, darf er als gelungen gelten. Kratzer gelingt es in all seiner Inkonsequenz, so viele Fragen aufzuwerfen, wie ein Bremer Opernabend es schon lange nicht mehr getan hat.
AXEL BRÜGGEMANN

3 Kommentare:

  1. Super Kritik! Ich habe den Tannhäuser noch nicht gesehen - aber es ist toll, wie viel Gedanken man sich über diese Oper machen kann. Bin neugierig geworden. Spannende Seiten - Gratulation!

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  2. Wow, da hat der WK in seiner heutigen Kritik ja ganz schön abgekupfert - bis zum Aufbau des Artikels. Peinich.

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  3. Sollte ich wirklich von meinem "Lieblingskollegen" AB abgeschrieben haben?
    Manchmal hat man ähnliche Auffassungen und das ergibt ähnliche Texte.
    LG
    MW

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