Donnerstag, 22. September 2011

Flucht aus Bremer Schule

Klassenbuch-Eintrag
Die Unterrichtsstunde beginnt, die Glocke hat bereits geschlagen. Ich bin an einer großen Bremer Schule, um eine AG zu leiten. Ich weiß, dass Jugendliche in der siebten und achten Klasse andere Vorstellungen haben als ich. Aber ich finde es spannend, wenn Menschen den Unterricht beleben, die aus der Wirklichkeit der Arbeit kommen. Ich bin fest davon überzeugt: in dieser Konstellation können beide Seiten voneinander lernen.
Ich gehe durch die Gänge, staune ein wenig über die abgebrochenen Türklinken, darüber, wie viele Kinder während der Unterrichtszeit durch die Flure toben, dass sie im Foyer Fußball spielen, dass die Lehrer, die ebenfalls noch nicht in den Klassen sind, mich nicht wahrnehmen. Aber ich denke, dass die Schule eben keine Lernanstalt mehr ist wie zu meiner Zeit. Sie ist ein sozialer Ort geworden. So wird es in Bremen jedenfalls politisch gewünscht: Gesamtschulen, Ganztagsschulen, Inklusion.
Der Ort des Wissens hat sich zum Ort des Miteinanders verwandelt. Das hört sich gut an. Und die Unruhe im Schulgebäude scheint eine Auswirkung dieser Philosophie zu sein. Wo gehobelt wird, fallen eben auch Späne. Wo Freiheit und persönliche Entfaltung im Vordergrund stehen, muss auch ein wenig Chaos herrschen.

Ich betrete den Unterrichtsraum. Ein Junge sitzt an einem der Tische und liest in einem dicken Roman. Zwei Mädchen stehen am anderen Ende des Raumes und tauschen ihre Pausenerlebnisse aus. An dieser Konstellation ändert sich auch nichts, nachdem ich das Klassenzimmer betreten habe. Der Junge blickt kurz auf und liest weiter, die Mädchen bemerken mich nicht. Ich habe gehört, dass Lehrer der Schule in diesem Fall Namen an die Tafel schreiben und Striche machen – nach nur fünf Minuten würden die Schüler dann erkennen, dass der Unterricht beginnt und ruhiger werden. Aber ich halte nichts von derartigen Methoden. Schließlich sind die Kinder freiwillig hier, sie hätten auch eine andere AG wählen können. Ich glaube, dass irgendwann der Moment eintreten wird, an dem wir mit unserer Stunde anfangen können, dass irgendwann alles spüren: jetzt geht es los!
Es ist nicht so, dass ich erwartet hätte, dass die Kinder aufstehen und „Guten Tag“ sagen, ich habe keine besondere Freude erwartet oder ein gesteigertes Interesse – aber damit, dass mein Erscheinen für keinerlei Reaktion sorgt, damit hätte ich nicht gerechnet. Immerhin hat die Glocke bereits geschellt, der Unterricht angefangen. Aber es passiert: nichts. Niemand nimmt Platz, keiner sorgt für Ruhe. Es ist, als wäre ich nicht da.
Ich lege meine Tasche auf das Pult, begrüße die Schüler und lasse die Augen schweifen. Einige Stühle stehen auf, andere an den Tischen, drei oder vier liegen auf dem Boden. Unter der Heizung liegen Spitzer-Späne, ein Haufen zerrissenes Papier, eine Bananenschale und leere Trinktüten. So stelle ich mir einen Klassenraum im Kosovo nach einem Luftangriff vor. Aber in Bremen scheint die Schule längst ein Kriegsschauplatz geworden zu sein.
Was für Lehrer sind das, die ihre Schüler aus einem derartigen Saustall in die Pause entlassen? Und vor allen Dingen, was soll ich nun tun? Ist es meine Aufgabe, für Ordnung zu sorgen? Die Kinder zum Aufräumen zu zwingen, bevor wir beginnen? Eigentlich will ich doch nur eine AG machen, das Wissen, das ich in meiner Arbeit habe, weitergeben! Ich bin Gast in diesem Haus. Überall anders, wo ich eingeladen werde, räume ich auch nicht auf. Ich überlege: Jede Sekunde, die wir zum Saubermachen verwenden, wird von der Zeit für die AG abgehen. Vom eigentlichen Machen, vom Lernen, von der Begeisterung für eine Sache. Also beschließe ich, den Dreck zu ignorieren – er fällt nicht in meine Zuständigkeit.
Auch zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn pendeln noch Schüler ein. Das scheint der Normalfall zu sein. Plötzlich heißt es, dass wir die Klasse wechseln müssen. Die Räume sind zu knapp bemessen, der Raumplan umgeworfen. „Es fehlen noch einige“, sagt ein Mädchen, während wir aufbrechen. Ich schreibe den neuen Raum an die Tafel – dann gehen wir durchs Treppenhaus.
15 Minuten später sitzen wir endlich im neuen Klassenzimmer. Der Junge hat sein Buch wieder aufgeschlagen, die Mädchen stehen neben dem Tisch und plaudern. Ich versuche, endlich anzufangen: „Wie wäre es, wenn wir uns so hinsetzen, dass wir einander sehen? Wir wollen ja miteinander reden.“ Aber meine Worte laufen ins Leere. Soll ich doch Striche machen? Nein, um keinen Preis! Wollen Schüler nicht als Erwachsene behandelt werden? Ich werde keine Kindergarten-Spiele mit ihnen spielen!
Der neue Raum ist der Computerraum. Die Kinder haben – ohne, dass sie aufgefordert wurden – die Geräte eingeschaltet, sich mit ihrem Passwort angemeldet und surfen auf Facebook. Jeder für sich. Keiner redet, niemand stört, aber alle sind vertieft in die virtuelle Welt. Meine Worte aus der Wirklichkeit scheinen nicht mehr zu ihnen vorzudringen.
Was mir nicht klar war, ist, dass der Alltag an Schulen wie dieser längst jenseits aller Regeln der Wissensvermittlung stattfindet. Ich leite nur eine AG, aber ich höre, dass es im Mathe-, im Deutsch- und im Englischunterricht nicht anders ist. Mehr noch, viele Lehrer stehen machtlos vor dem Respekt, dem sie der individuellen Entfaltung der Schüler gegenüber zu bringen haben. Mir wird klar, dass diese Art Schule letztlich die Kapitulation vor dem politisch gewollten Gesamtschul-System ist. Fast scheint es so, als wären die Schüler über Jahre hinweg gewohnt, dass die Schule nicht ihrer Bildung dient, sondern der Rücksicht auf ihre persönlichen Bedürfnisse. Dass Leistungsziele zwar benannt, im Zweifelsfall aber für die persönliche Entfaltung geopfert werden. Aber in einer Klassenatmosphäre, in der die privaten Befindlichkeiten jedes einzelnen Schülers zum allgemeinen Maßstab erhoben werden, ist an konventionellen Unterricht kaum zu denken. An Bremer Schulen ist das Palaver zum Schwerpunkt der Schulstunden geworden.
Ich rede an dieser Stelle nicht von verhaltensauffälligen Kindern, nicht von Schlägereien oder Mobbing, nicht von einer Problemschule oder Problemkindern. Ich stehe vor einer ganz normalen Bremer Klasse in einem bildungsnahen Stadtteil. Ich rede einfach nur von asozialem Verhalten, das durch den sozialen Bildungsauftrag beflügelt wird.
Beim letzten Mal haben wir Aufgaben verteilt. Ich erkundige mich, was herausgekommen ist. Die meisten haben ihre Ideen zu Hause vergessen, andere wiederholen nur, was wir letztes Mal schon besprochen haben. Während der Unterricht so langsam beginnt, surft ein Großteil der Schüler weiter im Internet.
Eines der Mädchen beginnt, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Sie hat sich ein Konzept einfallen lassen, will es vorstellen. Aber ihre Mitschüler hören ihr nicht zu. Unser Dialog scheint nichts mit ihrer Welt zu tun zu haben.
Ich stehe mitten in der Klasse wie in einem Vakuum. Die Welt des Unterrichts scheint weggesogen zu werden. Es gibt keinen Halt, um ihn wieder ins Klassenzimmer zu stellen. Die Schüler haben keinen Bedarf, sich von mir, unserem gemeinsamen Projekt oder einer Diskussion mit ihren Mitschülern bei ihrer Zeittotschlagerei ablenken zu lassen.
Inzwischen sind 20 Minuten verstrichen. Die Tür des Klassenzimmers öffnet sich erneut. Drei Mädchen trudeln ein. Sie kommen später, weil sie in der Pause gekocht haben. Sie betreten das Klassenzimmer, reden über ihre Pausenerlebnisse, suchen sich freie Stühle, setzen sich und reden weiter. Kein „Hallo“, kein „Entschuldigung“ – und erst Recht kein Versuch, zu sehen, was der Rest der Klasse gerade tut.
Um es noch einmal klar zu stellen. Ich habe es an diesem Mittag nicht mit Problemschülern zu tun. Die Jungen und Mädchen schreiben gute Noten, das, was sie tun, ist genug, um den Schulalltag schadlos zu überstehen. Sie wissen, dass die Zensur am Ende ihr Verhalten legitimiert, dass nicht mehr von ihnen erwartet wird als das, was sie gerade tun. So leben sie ihre Schule – Tag für Tag.
Mir kommt der Gedanke, dass das eigentliche Problem der meisten Schüler die Unterforderung sein könnte. Sie werden nicht gezwungen, an ihren Leistungen zu zweifeln, nicht herausgefordert, mehr zu schaffen als das, was ohne großen Aufwand möglich wäre. Sie sind nicht gewohnt, gemeinsam an einer Idee zu arbeiten, die Kraft der vielen zu nutzen. Letztlich dreht sich für sie auch in der Schule alles nur um sie selbst. Das Warten darauf, bis die Problemfälle integriert sind, dem Unterricht folgen und mitmachen, reißt Löcher der Langeweile in die Unterrichtszeit, die von den klügeren Schülern mit Internet-Surfen, Lesen oder Plaudereien überbrückt werden. Eine Sozialgemeinschaft, in der die Starken für die Schwachen sprechen ist in dieser Konstellation nicht vorgesehen: Jeder kommt für sich und seine Interessen in die Schule.
Das Prinzip der Gesamtschule wird bis an seine Grenzen ausgereizt. Schüler unterschiedlicher Leistungsstufen werden zwar gemeinsam unterrichtet, aber dieses Konzept führt in der Wirklichkeit nicht dazu führt, dass die Starken die Schwachen fördern, sondern dass es zu enormen Reibungsverlusten kommt. Die Organisation des Zusammenlernens ist zeitaufwändiger als die Vermittlung der eigentlichen Lerninhalte.
So stehe ich nun da, in der Annahme im Computerraum einer Bremer Gesamtschule auf Schüler zu treffen, die etwas von mir wollen, die Lust haben, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Doch ich merke, wie absurd meine Vorstellung ist. Ich stehe erneut vor der Entscheidung, was ich tun soll. Die Zähne zusammenbeißen und weiter machen? Schritt für Schritt versuchen, meine Vorstellung von Unterricht, vom Spaß an gemeinsamer Leistung, von der Lust, etwas Großes entstehen zu lassen, durchsetzen? 
Nein, für all das bin ich nicht hier. Ich will eine AG leiten, etwas schaffen und nicht gegen die Auswüchse des Bremer Bildungssystems kämpfen. Ich bin nicht gekommen, um zu erziehen, sondern um zu lehren. Doch genau das scheint nicht in das aktuelle System Schule zu passen – hier wird von jedem Lehrer erwartet, auch Pädagoge zu sein. Und auch von jedem Gast. Das aber bin ich nicht.
Der eigentliche Unterricht hat auch eine halbe Stunde nach dem Schellen der Glocke nicht begonnen. Ich lausche der allgemeinen Unruhe noch einige Sekunden nach, dann packe ich meine Sachen, gehe zur Tür und verabschiede mich mit den Worten: „Tut mir leid, aber das geht so nicht – dafür bin ich nicht hier. Macht es gut.“ Plötzlich wachen einige Schüler auf: „Wieso, was ist denn?“ „Was haben wir denn getan?“
Ich will keine Diskussion. Ich will Wissen vermitteln. Und ich baue dabei auf den Schulalltag, die Lehrer und die Schüler. Darauf, dass eine Schule ihre Schüler auf Gäste wie mich vorbereitet, dass sie ihnen Anstand und Benehmen beibringt – gegenüber Fremden und gegenüber sich selbst.
Ich verlasse den Raum und schließe die Tür. Im Gang durch das Treppenhaus fühle ich mich befreit. Nur das Mädchen, das den ernsthaften Versuch unternahm, mitzumachen, tut mir leid. Wahrscheinlich geht es ihr in anderen Fächern ähnlich – sie kommt in die Schule, um zu lernen. Aber mit dieser Auffassung geht sie an dieser Schule unter. Ihr fehlte allerdings die Kraft und der Mut, sich gegen die allgemeine Stoik durchzusetzen. Ihr Problem ist es, dass sie die Schule nicht verlassen kann - so wie ich.
Die Bremer Bildungssenatorin wird nicht müde, die Erfolge ihrer Schulpolitik zu feiern. Ich weiß nicht, ob sie einmal unangemeldet in einer ihrer Einrichtungen vorbeigeschaut hat. Also nicht an einem Tag, an dem die Schulleitung vorher das Großreinemachen verordnet hat. An dem die Schule ungeschminkt ist. An dem sie sich nicht herausputzt und so tut, als ob die politischen Willensbekundungen tagtäglich erfüllt werden. Ich weiß nicht, ob die Senatorin je selbst versucht hat hat, Inhalte vor einer Klasse zu vermitteln. Ich weiß nicht, ob sie ihre Schulen von innen kennt. Mit ihrer Rhetorik hat der Alltag in Bremen auf jeden Fall nichts zu tun!
Bevor ich das Gebäude verlasse, komme ich an jenem Raum vorbei, an dem mein Schultag begonnen hat. Eine Putzfrau krabbelt unter den Tischen und räumt Spitzer-Späne, Bananenschalen und Papierschipsel auf.
ANONYMUS (Name der Red. bekannt)

2 Kommentare:

  1. Hier wird geschrieben, was sich kein Lehrer getraut zu sagen - und zwar aus Angst davor, als unpädagogisch oder unfähig abgestempelt zu werden. Nach über 40 Jahren im Bremer Schuldienst weiß ich, dass die beschriebenen Zustände Lehrer oft bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringen. Das beschriebene Interesse und Arbeitsverhalten von Schülern, die sich in verkommenen Schulen einen ganzen Tag aufhalten und wohlfühlen sollen, ist nichts Außergewöhnliches. Gut gemeinte Theorien und Praxis klaffen oft sehr weit auseinander.

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  2. Manches an der Zustandsbeschreibung Bremer Schulen stimmt - anderes haut ganz und gar nicht hin Es gibt Schulen, an denen die Schülerinnen und Schüler Fegedienst haben, wasin der Regel dazu führt, dass die Verschmutzung während des Unterrichts sich in Grenzen hält. Und Spitzer-Späne mit einem Luftangriff auf den Kosovo zu vergleichen, ist völlig daneben.
    Richtig ist, dass Bildung ohne Erziehung nicht zu denken ist - und dass das Bildungsinteresse von Bremer Gesamtschülern an vielen Punkten nicht von vorneherein da ist, sondern entwickelt werden muss. Beziehungsarbeit ist ihnen oft wichtiger als Lernen - und so muss man als Pädagoge eben oft auf Unterrichten ex cathedra verzichten und Lernen in der Gruppe organisieren.
    Vielleicht ist ein Blick eines AG-Leiters, der doch eher peripher auf schulisches Lernen schaut, doch nicht vollständig, wenn auch die Fremdheit hilft. Ich habe jedenfalls mit einem Unterricht, der die Schwachen (in leistungsgemischten Lerngruppen) fördert und auf Herausforderungen an die Leistungsstarken nicht verzichtet (Sonette schreiben im Shakespeare-Unterricht in der 10. Klasse) keine schlechten Erfahrungen gemacht.
    Im übrigen ist es vielleicht weniger die Ausstattung unserer Schulen, sondern die Überalterung des Lehrpersonals, die Unterrichten schwierig macht. Mehr junge Lehrkräfte und mehr Menschen, die andere Erfahrungen als Schule und Uni gemacht haben, an unseren Schulen könnten helfen - schade dass ANONYMUS schon nach dem ersten Versuch gegangen ist.

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